Altertum: Kulturelle Beziehungen

Altertum: Kulturelle Beziehungen
Altertum: Kulturelle Beziehungen
 
Er stand auf seines Daches Zinnen,
 
Er schaute mit vergnügten Sinnen
 
Auf das beherrschte Samos hin.
 
»Dies alles ist mir untertänig«,
 
Begann er zu Ägyptens König,
 
»Gestehe, dass ich glücklich bin!«
 
 Dialog als Grundform der Begegnung
 
Als Schiller den »Ring des Polykrates« schrieb, plagten ihn keine Zweifel, ob denn eine Szene wie diese historisch überhaupt denkbar sei. Der Dichter kannte seinen Herodot, und in einer tiefen, die Zeiten und Räume überbrückenden Seelenverwandtschaft mit dem großen Griechen des 5. Jahrhunders v. Chr., der ein Meister des Brückenschlagens zwischen Völkern gewesen ist, wusste er schlicht und einfach um die Glaubwürdigkeit seines Gewährsmannes. Herodot überliefert diesen Gedankenaustausch über das Glück zwischen dem Ägypterkönig Amasis (570—526 v. Chr.) und dem Tyrannen von Samos im dritten Buch (40—43) der »Historien« als Briefwechsel. Den Geschichtsprofessor Schiller hinderte dies keineswegs an einer Konstruktion, wie sie dann in der bekannten Ballade Gestalt gewann. Und er hatte Recht damit, denn durch Herodot (Historien 2, 182) wissen wir, dass nicht nur ein Freundschaftsbündnis zwischen Amasis und Polykrates bestand, das durch einen ständigen Geschenketausch dokumentiert wurde, sondern auch, dass der Ägypter Gastfreund des Samiers gewesen ist, also eine persönliche Begegnung der beiden Herrscher vorausgegangen sein musste. Man spürt den sicheren Umgang mit dem Stoff, aus dem die Quellen gemacht sind, aber auch die Lust am Deuten, die den Gelehrten zu allen Zeiten vom Handwerker unterschieden. Schiller verband die Episode bewusst mit dem Besuch des Ägypterkönigs auf Samos, um so das Beziehungsgeflecht der Zeit als genuines Ganzes zu interpretieren.
 
Der Dichter und Historiker erkannte also das Einanderbegegnen, den Dialog miteinander als jenes grundsätzliche Movens, die bewegende Kraft, der die Antike im bunten Spektrum ihrer Bewegung stets gefolgt war und die sie im Innersten charakterisierte. Hier dürfte auch Platon Pate gestanden haben: Für ihn vollzog sich die Annäherung an die Erkenntnis über den Dialog, den seinerseits allein die Begegnung der Freunde gewährleistete. Das Gastmahl, eine auf der persönlichen Begegnung beruhende Gemeinschaft, ist uns als Ort der großen Entscheidungen wie auch des intimen Austausches seit Homer so vertraut, dass uns die Lehrer-Schüler-Gemeinschaften der nachchristlichen Zeit, wie sie uns beispielsweise im 2. Jahrhundert in dem Kreis um den griechischen Rhetor Herodes Atticus so plastisch vor Augen treten, nachgerade als direkte Fortsetzung dieses uralten Gutes erscheinen. Epikur versammelte seine Anhänger — ihrer Zahl setzte er theoretisch keine Grenzen — im »Garten«, einem umhegten Grundstück, auf dem er mit ihnen Gemeinschaft übte, während das seit dem Hellenismus in Mode gekommene Vereinswesen dem antiken Gemeinschaftsbedürfnis in der Atmosphäre der Öffnung hin zu einer neuen Ökumene und des endgültigen Bruches mit der alten Polis-Enge dergestalt nachgab, dass die Vereine feste Strukturen bildeten und die auseinander driftenden Kräfte neu zusammenfügten. Und schließlich: Nicht das Lesen zeichnete die antike Gesellschaft aus, obwohl das Schreiben vielleicht ihre vornehmste Errungenschaft war, sondern das Hören und Sagen, und so tritt sie uns vor allem als eine »Hören-Sagen-Gesellschaft« entgegen, ist also durch Elemente gekennzeichnet, die Begegnung voraussetzen.
 
 Transformation als Folge von Begegnung
 
Der Standort der Studien zur Beziehungsgeschichte innerhalb der Forschung — und um Beziehungsgeschichte geht es hier vordergründig — kann auch heute keineswegs als grundsätzlich anerkannt und klar definiert gelten, auch wenn es inzwischen viele hervorragende, jedoch oft höchst unterschiedliche Einzeluntersuchungen gibt, deren Wirksamkeit infolge der mangelnden Bündelung zu einem Ganzen oder zu bestimmten Komplexen letztlich sehr punktuell und eingeschränkt bleibt. Spätestens seit Johann Gottfried Herders »Stimmen der Völker« ist aber der Werdegang der Menschheitsgeschichte, also auch des Altertums, als ein sich gegenseitig bedingender, ineinander greifender und auf die Wahrnehmung des ande- ren orientierter Prozess erkannt — eine Einsicht, der die Althistoriker Eduard Meyer (1855—1930) und Michael Rostovtzeff (1870—1952) oder der Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee (1889—1975) in ihrem wissenschaftlichen Werk gerecht zu werden versuchten. Mit dem Soziologen Norbert Elias (1897—1990) fassen wir daher »Entwicklung« als Transformation, passt sich doch die Begegnung der Kulturen gerade im Bereich der West-Ost-Kontakte überhaupt nicht in das mit diesem Begriff stets assoziierte Bild des fortlaufenden Aufstiegs ein, sondern erweist sich vielmehr als ein Hilfsmittel zur Entstehung von neuen, jedoch gleichwertigen Formen einer Ebene.
 
Das Phänomen »Begegnung« bündelt alle jene Inhalte, die Begriffe wie Verschmelzung, Beeinflussung, Entlehnung, Übernahme im Einzelnen zwar vermitteln, ohne indessen den Kern beziehungsgeschichtlichen Geschehens wirklich treffen zu können. Die Begegnung der Kulturen hingegen impliziert einen ganz und gar natürlichen Vorgang, bei dem die Substanz der einander begegnenden Größen unangetastet bleibt, was für die Entwicklungen im Altertum weitgehend zutrifft: Das innovatorische Element bewusst und energisch betriebener vollkommener Umschmelzung und Formung nach eigenen Modellen, wie es die Moderne kennt, ging dem Altertum fast gänzlich ab. Selbst dort, wo man es noch am ehesten vermuten möchte, nämlich in den römischen Provinzen der Kaiserzeit, stellt sich bei näherer Betrachtung die Bewahrung, ja Vitalität historisch gewordener und überkommener Voraussetzungen heraus.
 
Es erweist sich also die Geschichtsbetrachtung vom Standpunkt der Begegnung nicht nur als äußerst brauchbare, sondern auch als wirksame Methode zur historischen Einordnung, weil vornehmlich dies die Ebene war, auf der sich Beziehungen in der Alten Welt verwirklichten. Erst die Begegnung in ihrer unaufdringlichen Wirkungsweise schuf die Voraussetzungen für einen Akt der Transformation, der sich eben, wenn sie nur lange genug anhielt bzw. sich häufig genug wiederholte, dadurch anbahnen konnte und schließlich jene großen Veränderungen bewirkte, die wir als die eigentlichen Zäsuren in der Geschichte verstehen. Die vielleicht transformatorisch folgenreichste Begegnung dürfte der Eintritt des orientalisch geprägten Christentums in die römische Welt gewesen sein, seine Begegnung mit Europa, aus der es verwandelt hervorging und die es zum fundamentalen abendländischen Denk- und Begriffssystem werden ließ.
 
 Wahrnehmung, Begegnung, Konfrontation — Orient und Okzident im 2. und 1. Jahrtausend v. Chr.
 
Der Tradition verhaftet, betrachtet man vielfach das 2. Jahrtausend v. Chr. noch immer als einen eigenen Zyklus von Entwicklungen, den vom 1. Jahrtausend tiefe kulturelle und mentale Brüche trennen, obwohl die moderne Forschung zunehmend Beweise gegen den Alleingang der historischen Entwicklungen auf den nachmaligen Territorien der Griechenkultur und für eine wechselseitige Wahrnehmung zwischen der Ägäis, dem multiethnischen Vorderasien, Kleinasien und Ägypten sammelt, die diese Welt als einen gemeinsamen großen Komplex historischer Gegebenheiten ausweisen. In diesem von Zeit und Raum geprägten Zusammenhang war aber zugleich auch die Brücke in das 1. Jahrtausend geschlagen, denn ein wirklicher Abbruch der Kontakte trat nicht ein, Schifffahrt und Handel bestimmten inzwischen durch die Phöniker so nachhaltig das Leben, dass mit dem Export und Import von Gütern auch ein Ideentransfer einherging.
 
Oft lassen sich die Wege dazu weder konkret noch präzise genug fassen, allein die hier und da sichtbaren Folgen solcher Begegnungen implizieren die Annahme dauerhafter Kontakte. Die eingehende Betrachtung des sich ständig erweiternden Quellenbestandes bringt es immer wieder an den Tag: Viele durchaus konturierte Beziehungsstränge sind ohne Kontinuität gar nicht vorstellbar, bilden einen festen Bestandteil der historischen Vorgänge und veranschaulichen, wie sich jedes Volk sowohl durch das Verhältnis seiner Nachbarn zu ihm als auch umgekehrt durch die eigene Sicht auf die Nachbarn definiert. Die Griechen und später dann die Römer hatten immer die Staaten des Ostens zu Nachbarn, und zu einem nicht geringen Teil vollzog sich die Geschichte des Altertums in der Wahrnehmung, Begegnung und Konfrontation dieser beiden Komponenten. So kommt die moderne Geschichtsschreibung nicht mehr ohne den beziehungsgeschichtlichen Aspekt aus.
 
 Handel und Diplomatie — Elemente der Begegnung im Alten Orient
 
Das 2. Jahrtausend v. Chr. war eine Zeit regsten Verkehrs mit den Nachbarn, die Annalen der Herrscher ergingen sich in langen Aufzählungen der Völker, die sie unterworfen hatten oder mit denen sie diplomatische, wirtschaftliche und andere außenpolitische Beziehungen unterhielten, es existierte ein florierender Noten- und Geschenkeaustausch, man schloss dynastische Ehen, entsandte Expeditionen und betrieb Fernhandel. Das gesamte Spektrum materiellen wie geistigen Austausches steht wie ein Markenzeichen für dieses Jahrtausend, das geographisch durch Vorderasien, Ägypten, Kleinasien, die Balkanhalbinsel und das sie alle verbindende Mittelmeerbecken bestimmt ist. Eine Geschichte der Beziehungen zu schreiben, ist nicht Aufgabe dieser Darstellung, wohl aber vermögen Fallstudien und ausgewählte Beispiele eine Vorstellung von der Vielfalt und Buntheit des ganzen Zeitalters zu geben.
 
Bereits zu Beginn des Jahrtausends nahm Anatolien im altassyrischen Fernhandel eine exponierte Stellung ein, entstanden viele Handelsfaktoreien fernab und unabhängig von der assyrischen Metropole am Tigris. Hierbei handelte es sich nicht — und dies ist bemerkenswert — um Gründungen im Gefolge expansiver Angriffspolitik mit den Mitteln militärischer Gewalt, sondern um eine auf gegenseitigen Vereinbarungen beruhende wirtschaftliche Kontaktpflege, bei der die assyrischen Kaufleute ihre Niederlassungen im Bereich bedeutender anatolischer Städte im Einvernehmen mit den örtlichen Machthabern aufschlugen. Solche Niederlassungen waren durch zwei Typen repräsentiert — karum (Hafen, ausgestattet mit der Autonomie) sowie wabartum (Handelsstation) —, und sie zeichnen uns ein Bild außerordentlich weit gespannter Handelsbeziehungen, die Klein- mit Vorderasien fest verbanden. Der achäologische Befund legte nicht nur das äußere Bild dieser Siedlungen frei, sondern auch regelrechte Archive, Hinterlassenschaften einer Handelstätigkeit großen Ausmaßes. Die assyrischen Kaufleute bezogen aus Kleinasien Kupfer und Silber, lieferten selber Wolle und Leinen sowie Zinn für die Bronzeherstellung aus Mesopotamien. Auch auf engere Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung Anatoliens deutet einiges hin: Gut, wenn auch nicht zahlreich belegt sind in einem fortgeschrittenen Stadium assyrischer Präsenz in Anatolien eheliche Verbindungen zwischen Assyrern und Anatolierinnen. Beschleunigend dürfte für solche Verwurzelungen gewirkt haben, dass es kaum größere Probleme mit der Verständigung gegeben hat, denn etliche Anhaltspunkte, die die vielfältig erhaltenen Schriftquellen bieten, müssen in solchem Sinn interpretiert werden, gestaltete sich doch die ethnische Zusammensetzung in diesen Zentren sehr bunt, wie Untersuchungen am Namengut der Texte ergaben. Vor allem aber führten die Assyrer die Schriftlichkeit und eine Schriftsprache ein — eine kulturhistorisch unschätzbare Leistung, die aus der Begegnung dieser Völker und der daraus initiierten Umformung erwachsen war.
 
Kanisch (Kültepe), östlich des Flusses Halys (Kɪzɪlɪrmak) noch an seinem Oberlauf gelegen, ist eine der am besten erschlossenen Handelsvereinigungen: Ihre geschäftliche Tätigkeit konzentrierte sich auf ein fein abgestuftes Kreditwesen, in dem alle hier möglichen Abschlüsse repräsentiert waren. Ein Keilschrifttext veranschaulicht dies sehr eindringlich: Es ist eine Sammelurkunde zugunsten des Gläubigers Enlilbani, dem hiernach vom kleinen Geschäftsmann bis zur Handelsfaktorei Kanisch, also dem Gemeinwesen, insgesamt 100 Minen Silber, etwa 50 kg, geschuldet wurden, eine ungeheure Summe. Mit solchen Darlehen finanzierte man ganz unterschiedliche Geschäfte, wie auch die Geschäftspartner ganz verschiedener ethnischer Zugehörigkeit waren, entsprechend der in Vorderasien geübten Rechtspraxis, der zufolge Gläubiger keiner Verankerung in Gemeinwesen oder Familie bedurften. Dies gerade ermöglichte die Integration des ausländischen Kaufmanns und damit auch diesen hier beschriebenen internationalen Handel.
 
Die Fallstudie Kanisch ist für das Thema nicht ohne Vorbedacht gewählt worden: Die Niederlassung befand sich geographisch wie kulturhistorisch am Schnittpunkt von Ost und West, verband Vorder- und Kleinasien, die großen Kulturlandschaften der Begegnungen im Altertum, miteinander. Der uralte Schmelztiegel Anatolien führte die Völker zusammen — solche, die aus dem Orient drängten. Diese besondere Funktion der Region wurzelte nicht nur in der seit ältesten Zeiten bezeugten Besiedlungstradition (spätestens seit dem 3. Jahrtausend waren befestigte Orte Zentren politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens der kleinasiatischen Stämme; einer späthethitischen Überlieferung zufolge tauchten die ersten akkadischen Kaufleute schon zur Zeit Sargons von Akkad, also etwa im 24. Jahrhundert v. Chr., dort auf), sondern auch in der besonderen geographischen Lage zwischen dem Vorderen Orient, der ägäischen Welt und der Balkanhalbinsel. Den engen Verbund dieser Ökumene spiegelt die im Archiv Amenophis' IV. (Echnaton, 14. Jahrhundert v. Chr.), das schon von seinem Vater angelegt worden war, in Tell el-Amarna (Ägypten) in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts entdeckte, keilschriftlich geführte Korrespondenz der Pharaonen mit den Königen Babyloniens, Assyriens, Mitannis, der Arzawa-Länder, Alaschijas und des Hethiterreiches wider. Die Arzawa-Länder bildeten das Territorium Kilikiens im südöstlichen Kleinasien, nördlich davon lag das Hethiterreich, Alaschija hieß die Insel Zypern in diesen Briefen, die ihrerseits weit gespannte Kontakte zur Ägäis und nach Ugarit an der Levante unterhielt.
 
 Kulturexport im Alten Orient — Akkadische Sprache und Keilschrift
 
So entfaltet sich vor unseren Augen ein dichtes Geflecht intensiver Beziehungspflege, in dem dieser diplomatische Briefwechsel nur ein, dafür aber sehr aussagekräftiges Indiz bildet. Die Verkehrssprache war Keilschriftakkadisch, und darin lag neben den konkreten Quellennachrichten der kulturhistorische Wert dieser Funde für unser Thema: Die Sprache der Völker des Zweistromlandes (Babylonier und Assyrer) als Lingua franca der Zeit muss als wirklicher Kulturexport betrachtet werden, setzt Begegnung, Wahrnehmung, Akzeptanz und Aufnahmebereitschaft geradezu voraus und bestätigt höchst beeindruckend das von Victor Klemperer 1947 seinem »LTI« (»Lingua Tertii Imperii«) als gedankliches Leitmotiv vorangestellte Rosenzweigzitat, zugleich die Frucht einer aus langjähriger Erfahrung gewonnenen Einsicht des Philologen: »Sprache ist mehr als Blut.« Diese eigentlich grundantike Vorstellung von der Zweitrangigkeit des Ethnischen gründete sich auf das sozial-kulturell ausgerichtete Konzept des Altertums, das die Integration des Fremden in eine andere Gesellschaft über Instrumentarien des Sozialen und des Sprachlichen (Kulturellen) ermöglichte. Wenn die Amarnakorrespondenz in der Schrift und Sprache der mesopotamischen Kultur geführt wurde, so bedeutete dies, dass alle Beteiligten entweder damit vertraut waren, sie also übernommen hatten, wie das für die Schrift bei den Hethitern der Fall war, oder sie als Medium der Verständigung akzeptieren konnten. Hier ergibt sich darüber hinaus eine merkwürdige Duplizität mit den anatolischen Handelsfaktoreien, wo ebenfalls die Assyrer 500 bis 600 Jahre vor Tell el-Amarna die erste Schrift- und Verkehrssprache einführten.
 
Die Keilschriftüberlieferungen des Neuhethitischen Reiches (1400—1200 v. Chr.) aus Boğazkale belegen einen regen Austausch mit Achijawa (das in den ägyptischen Hieroglyphentexten ebenso bezeugt ist wie die andere Bezeichnung Homers für die achäischen Griechen: Danaer), einem Staat, der im Zusammenhang mit Vorgängen und Gebieten im Westen und Südwesten Kleinasiens erwähnt wird. Über den Namen des Reiches und seinen Ursprung entbrannte ein heftiger philologisch-linguistischer Streit, wobei die einen in ihm den Sammelnamen »Achäer« für den griechischen Stammesverbund Homers wieder zu erkennen meinten, während die anderen eine solche Gleichsetzung entschieden bestritten. Man lokalisierte das Reich auf Zypern, Kreta, Rhodos und irgendwo in Anatolien. In jüngerer Zeit häufen sich die Meinungen wieder zugunsten der ersten Identifizierung Achijawas mit dem mykenischen Griechenland. Es handelt sich wohl aber auf jeden Fall um einen der Achäerstaaten in Westkleinasien oder auf den nahe gelegenen Inseln. Die Quellen nennen die Könige von Achijawa, die sich später auch am »Seevölkersturm« auf Ägypten beteiligten, in einem Atemzug mit den stärksten Großmächten der Zeit. Die zunehmenden Übergriffe der Herrscher dieses Landes auf hethitisches Gebiet haben nicht wenig zum Zerfall des Hethiterstaates beigetragen.
 
 Der Krieg als Quelle kultureller Begegnung
 
Mit Achijawa bewegen wir uns im Kultur- kreis des mykenischen Griechenland, jener bereits achäisch-griechischen Zivilisation, die die durch Kreta beherrschte, maritim geprägte minoische Periode im 15. Jahrhundert v. Chr. ablöste und das Zentrum der Entwicklungen auf das griechische Festland verlegte. Ihr Einzugsbereich umfasste die Peloponnes, Attika, Böotien, Phokis, Thessalien sowie etliche Ägäisinseln. Schon die für die mykenische Frühzeit charakteristischen Schachtgräber weisen ein so reiches Inventar auf, dass die Vermutung, seine Entstehung sei intensiven Außenkontakten zuzuschreiben, nahe liegt. In diesem Sinn ist auch der Krieg als eine Quelle der Begegnungen anzusehen, in dessen Gefolge sich die Bekanntschaft mit einer fremden Kultur sowohl über die Erzeugnisse derselben, die als Beute an den Sieger gelangten, als auch über die Kriegsgefangenen, die ihr weiteres Leben in einer neuen, fremden Umgebung führen mussten, aber zugleich auch das Eigene mitbrachten, vollzog. Gerade dieses Beispiel zeigt, welche eigenen Wege die kulturellen Beeinflussungen und Ausstrahlungen nehmen konnten, um in einem transformativen Prozess Fremdes zu verarbeiten und innovatorisch für das Eigene einzusetzen. Die vielen so entstandenen Schatzhäuser, von denen uns die Überlieferung berichtet und deren Existenz der archäologische Befund auch nachzuweisen vermag, haben beträchtlich zum Kulturaustausch beigetragen und auf die Kultur der Besitzer dieser Schätze gewirkt. Auch dürften Zweifel, ob man hierin eine bewusst geübte Praxis erkennen soll oder nicht, wenig angebracht sein: Der Mensch des Altertums war weder primitiver noch dümmer als wir.
 
Unter besonderem äußerem Zwang fanden sich die einander oft befehdenden achäischen Staaten auch zu gemeinschaftlichen Unternehmungen bereit. Homers durch die »Ilias« überlieferter Trojanischer Krieg kann als eine solche eingeordnet werden. Die Heerfahrt nach Troja erwies sich als gewaltiges Vorhaben, in dem Begegnung geradezu vorprogrammiert erschien, da es sich hierbei im Grunde um eine, wenn auch herausragende, so doch keineswegs einzige Aktion dieser Art handelte. Seine Bedeutung erhellt sich uns erst im Kontext der militärisch-kolonisatorischen Expansion, die die Achäer in Kleinasien und im östlichen mediterranen Raum ins Werk setzten. Dort schossen achäische Siedlungsplätze, an denen sich große Mengen mykenischer Keramik fanden, wie Pilze aus dem Boden, sodass hier die mykenischen Griechen die Rolle ihrer Vorgänger als Handelspartner übernahmen, zumal man seit dem 15. Jahrhun- dert v. Chr. unter Ausnutzung der traditionellen Routen von Kreta aus direkt in den Orient vorstoßen konnte. Die Achäer behaupteten sich bald durch Handel und Seeräuberei in dieser Region, was sie wiederum mit den umliegenden Völkern in Kontakt brachte; insbesondere sollten hier auch die Einfälle in ägyptisches Gebiet im Rahmen des Seevölkersturms um die Wende vom 13. zum 12. Jahrhundert v. Chr. genannt werden. Andererseits scheinen bereits bei der Abwehr der Hyksos zu Beginn der 18. Dynastie (um 1550 v. Chr.) auch mykenische Griechen mitgewirkt zu haben, denn in Mykene lassen sich seit dieser Zeit ein starker ägyptischer Einfluss und eine große Anzahl ägyptischer Funde feststellen, die unmissverständlich auf einen intensiven freundschaftlichen Austausch zwischen den beiden Kulturzentren deuten.
 
 Händler und Kolonisatoren — Die Phöniker als Mittler zwischen Orient und Okzident
 
Eine Darstellung zur Interkulturalität im Altertum bleibt ohne einige Überlegungen zu den kolonisatorischen Bewegungen, also zur Gründung neuer Ansiedlungen auf fremden Territorien, zweifelsohne ein Torso, handelte es sich hier doch bei vielen Staaten der Alten Welt um ein unverkennbares Charakteristikum. Nach einer zutreffenden Beobachtung von Ernst Kirsten (1911—87) waren die Griechen ein »Volk auf Wanderschaft«, gehörten Mobilität und Begegnung zu ihren Lebenselixieren. Die Phöniker sind die anderen großen »Wanderer« des Altertums, auch ihre Kolonisation führte sie weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus. Beide kolonisatorischen Bewegungen haben den mediterranen Raum nachhaltig und für viele Jahrhunderte voraus geprägt.
 
Im 2. Jahrtausend v. Chr. gründeten kretomykenische Händler Faktoreien im Umkreis der phönikischen Städte, Phöniker ließen sich zum Beispiel auf Phasos oder im böotischen Theben nieder, wo seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. Funde, sogar kassitischer Herkunft, enge Beziehungen mit dem Orient anzeigen. Tyros, nach der Zerstörung Sidons durch die Philister wichtigstes Auffangbecken für die Vertriebenen, sah im Griff nach Übersee ein probates Mittel, den damit entstandenen Problemen zu begegnen bzw. die eigene Einflusssphäre durch den Zustrom dieses Potenzials beträchtlich zu erweitern. Die an den Standorten der späteren Städte Gades (Spanien), Lixus und Karthago (Nordafrika) errichteten Heiligtümer für Melkart, den tyrischen Stadtgott, bezeugen dieses Ausgreifen der zentralen phönikischen Metropolis, worin bereits der erste Ansatz zu einem spanisch-nordafrikanischen phönikischen Kulturkreis zu erkennen ist, zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Später, im 9. bis 8. Jahrhundert v. Chr., entdeckten die Phöniker Sardinien für sich, schließlich wurde Sizilien erschlossen, das sie aber nur teilweise gegen die Griechen zu behaupten vermochten. Neben Malta, der natürlichen Zwischenstation von Ost nach West, diente ihnen Kition auf Zypern als wichtiges Zentrum, während sie in Ägypten höchstens Stadtviertel wie den »Tyrischen Hof« in Memphis in Besitz nahmen. In den Stadtstaaten der Griechen vermochten sie sich nicht mit eigenen Strukturen festzusetzen, sondern assimilierten sich bald.
 
Will man die Stellung der Phöniker im Altertum definieren, so muss man sagen, dass das Handelsvolk der Phöniker die Brücke zwischen den Völkern bildete, bei denen der Handel nicht gesellschaftstragend, sondern eine von verschiedenen Komponenten gewesen ist. Sie verbanden die alten Hochkulturen des östlichen Mittelmeerbeckens mit den noch jungen, werdenden Regionen des mittleren und westlichen Mediterraneums sowie der atlantischen Küste. Der damit unausbleibliche Kulturgüteraustausch brachte unter anderem vorderasiatische Steinschneidekunst mit der charakteristischen Keilschrift nach Hellas, rückte aber damit auch die alten Reiche als solche ins Bewusstsein, tradierte in Erzählungen deren Mythen und Geschichten, wie sie um 700 v. Chr. in Hesiods »Theogonie« einflossen, und vermittelte umgekehrt ihnen in den Waren und Rohstoffen, die man von dort bezog, zugleich auch Kunde über diese westlicher gelegenen Gegenden. Als Movens der Begegnung stellen wir hier die Kolonisation heraus, die Expansion der eigenen Kultur in ei- nen weniger entwickelten ethnogeographischen Raum, in dem aus den beiden Komponenten »Kolonisatoren« und »Einheimische« in einem langen Prozess meist unter Bewahrung der Eigenständigkeit eine kulturelle Symbiose entstand, die es eben ermöglicht, etwa von der phönikischen Kultur Spaniens zu sprechen. Hierzu fällt einem das treffende Wort des russischen Arabisten Ignatij Kratschkowskij (1883—1951) ein: In Spanien »liefert uns die Vergangenheit immer dann ein markantes Beispiel der Unbeständigkeit aller Grenzen zwischen Orient und Okzident, wenn es um die Wege der Weltkultur geht«.
 
 Erweiterung des Horizonts — Griechische Kolonisation
 
Expandierten die Phöniker von einer Randlage aus in unverändert westlicher Richtung, so strebten die Griechen in ihrer im 8. Jahrhundert v. Chr. einsetzenden kolonisatorischen Bewegung, sich offenbar ihrer Mittellage wohl bewusst, gewissermaßen an die Ränder, wobei man drei Grundströmungen festmachen kann: in den Schwarzmeerraum, nach Nordafrika und in den Westen mit der spanischen Ostküste, Südfrankreich, Sizilien und Süditalien. Der Osten, griechischerseits durchaus angepeilt und mit Tell Sukas und el-Mina (Syrien) als Niederlassung auch repräsentiert, hat aber eine umfangreichere Kolonisation schon allein deswegen erschwert, weil dort die uralten Reiche des Orients dominierten. Die so von verschiedenen griechischen Zentren aus geschaffenen Herde hellenischer Zivilisation begründeten zugleich eine Randzonenkultur, die das gesamte Mittelmeerbecken bis in das Schwarze Meer durch den Austausch zwischen Mutter- und Tochterstadt (Metropolis und Apökie) miteinander verband, den Blickwinkel beträchtlich erweiterte und, einer erst im Hellenismus voll ausgereiften Tendenz vorgreifend, die Peripherie in das historische Geschehen integrierte. Kolonisatorisch gewirkt haben aber auch in Hellas nur bestimmte Regionen: Chalkidier und Achäer in Unteritalien, Ionier im Schwarzen Meer (lateinisch mare Ponticum), mit Ausnahme der Phokäer im äußersten Westen, Dorer in Libyen (Kyrene), während im Nildelta Naukratis gegründet wurde.
 
In der Neunten Pythischen Ode bezeichnete Pindar Kyrene unter anderem als des »Festlands dritte Wurzel«, worin die zeitgenössische Sicht der entstandenen Kolonialwelt widergespiegelt scheint. War Kyrene des Festlands dritte Wurzel, so müssen der griechische Westen und die Mare-Ponticum-Region die anderen beiden Wurzeln repräsentiert haben, interpretiert man »Festland« als Metropolis, das heißt Hellas als Keimzelle der griechischen Kultur. Die Bestimmung der Apökien als »Wurzeln« umschreibt ihre Versorgerrolle für die Metropoleis zu dieser frühen Zeit recht treffend. Die Erschließung neuer Siedlungsplätze im fremden Umland, der damit aufgenommene Kontakt zur Welt der Einheimischen und der sich daran knüpfende Güterexport wiesen den Griechen in Übersee eine Stellung zu, die sie im Erfolgsfall einer Aussendung von Kolonien nachgerade zu Rettern der Heimatpolis machte.
 
Man ist geneigt, das gesamte kolonisatorische Geschehen als einen Prozess zur Schaffung eines neuen Hellas an bestimmten Punkten der antiken Ökumene zu deuten. An solchen Schnittpunkten bedauert der Historiker die Bruchstückhaftigkeit der Überlieferung ganz besonders: Welche innenpolitischen Spannungen, geistigen und ethischen Krisen müssen dem vorangegangen sein, wenn der Gedanke an Verlagerung so greifbar nahe rückt. Die Frage nach dem Aufgenommensein in der Fremde erhebt sich: Die griechischen Niederlassungen konstituierten sich mit wenigen Ausnahmen auf friedlichem Wege, die Beziehungen zum Umland gestalteten Handel und Austausch, es wirkte also das Prinzip der Nachbarschaftlichkeit; meistens kamen die Frauen der Siedler, die die Fahrt ins Unbekannte allein antraten, also der jüngeren Söhne der Familien, aus dem einheimischen Milieu, sodass sofort eine Verbindung zu den vorgefundenen Strukturen angebahnt wurde. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschah, zeigt die gegen die Moderne vollkommen andere, spezifisch antike Definition von Fremdheit in Aktion. Auch die Herrschaftsverhältnisse gestalteten sich anders als in der Heimat: Die außerordentlichen Anforderungen, sich in der neuen Region zu behaupten, brachten mit der Zeit auch Regime hervor, die nach dem Einzelherrschaftsprinzip funktionierten bzw. zentralistisch intendierte Regierungsformen bevorzugten. Darin keinen Einfluss der lokalen Ordnungen zu sehen fällt schwer, und so bildeten sich gerade hier Voraussetzungen heraus, die die Begegnung zwischen griechischer und einheimischer Kultur zu einer Synthese zu führen vermochten, wie sie beispielsweise bei den Skythen, in der Magna Graecia (das heißt in dem von Griechen bewohnten Unteritalien), aber auch in der etruskischen Kultur sehr deutlich hervortritt.
 
Die griechische Kolonisation hatte zwar den östlichen Bereich zuerst einmal ausgelassen, holte dies aber sehr bald in anderer Form nach. Hier kommt Ionien eine ungeheure Bedeutung zu, das sich jahrhundertelang in der Nachbarschaft der altorientalischen Reiche befand, sodass sich ein gegenseitiger Wahrnehmungsprozess vollzog, der spätestens seit neuassyrischer Zeit auch in der keilinschriftlichen Überlieferung widergespiegelt ist. Ob es sich um Auseinandersetzungen Sargons II. mit kleinasiatischen Piraten handelte, die die assyrische Einflusssphäre störten, oder in neubabylonischer Zeit um Arbeitskräfte in Nebukadnezars Residenz Babylon, Warenlieferungen aus dem »Land Jaman« (das heißt Ionien) unter der Regierung Nabonids, Begegnungen fanden im Vorderen Orient allemal statt.
 
Mit der persischen Dominanz auf dem Fruchtbaren Halbmond nach Kyros II., der 546 Lydien unterwarf und 539 Babylon einnahm, beobachtet man eine zunehmende Präsenz von Griechen in persischen Diensten oder als Gesandte, Reisende im Achämenidenreich usw. Es ist geradezu faszinierend, wie viele Griechen, bis hin zu den Söldnern, ihr Leben auf diese Weise neu ordneten und schnell bei Hofe, im Staat und im Heer in hohe Stellungen aufstiegen, als gesuchte Fachleute galten. Selbst in Fällen, wo die Übersiedlung nach Persien gewalttätig verlief, fassten begabte und gut ausgebildete Leute schnell wieder Fuß. Andererseits wissen wir von umfangreichen Deportationen Unterworfener zu Arbeitszwecken in die Persis, wo die Betreffenden in einem hervorragend organisierten System im Bereich der Königswirtschaft eingesetzt wurden. Hier stehen uns sowohl eine zuverlässige persische amtliche Überlieferung als auch antike Berichte zur Verfügung, die die Praxis der Achämeniden, Arbeiter aus der gesamten Völkervielfalt ihres Reiches heranzuziehen, beleuchten.
 
 Das Perserreich — Ein multikultureller Staat im Altertum
 
Der persische Vielvölkerstaat stellt ein höchst anschauliches Beispiel für die Mechanismen dar, die wirksam wurden, wenn das Reichsganze auf der Integration aller ethnischen Komponenten beruhte: Da ist die Mehrsprachigkeit der amtlichen Verlautbarungen ganz in Abhängigkeit von der Region, der Einsatz einer ganzen Armee von Übersetzern und Vermittlern in den königlichen Kanzleien, die einen entsprechenden Briefwechsel führten, ferner die bewusste Wahrnehmung der großen Zahl der dem Reich einverleibten Gebiete und Völker, wie sie in den mehrmaligen sehr präzisen Völkerkatalogen der Inschriften am Bisutunfelsen oder im Audienzsaal der Residenz Persepolis mit den unendlichen Reihen von Gabenbringern und Bittstellern zum Ausdruck kommen, natürlich auch Inschriften wie die über den Bau des Palastes in Susa unter Dareios I., in der, ethnisch geordnet, ähnlich wie in den in Persepolis gefundenen Täfelchen, die an den Arbeiten mit den verschiedensten Aufgaben beteiligten Personengruppen erfasst sind.
 
Die Achämeniden korrespondierten selbst mit so entfernten Regionen wie der jüdischen Militärkolonie auf der Nilinsel Elephantine, wie eine von Dareios II. erlassene Kultordnung von 419 v. Chr. belegt, nutzten die in Babylonien landläufigen Formen der Bodenpacht für den Unterhalt des eigenen Militärwesens, bestätigten in Ionien die Privilegien der dem Griechengott Apollon heiligen Bezirke, genehmigten den Juden den Wiederaufbau des Tempels nach dem Exil usw. Wie in historischer Zeit kaum zuvor, vielleicht vergleichbar der »Aramäerpolitik« des assyrischen Herrschers Tiglatpileser III. im 8. Jahrhundert v. Chr., haben die Perser die Völker der »behausten Welt« auseinander gerissen und wieder zusammengeführt und durch gemeinsamen Dienst und gemeinsames Schicksal untereinander gleichgestellt, darüber hinaus Voraussetzungen für eine gegenseitige Verständigung geschaffen. Sie haben es, gewollt oder ungewollt, verstanden, mit der aramäischen Verkehrssprache die Entstehung eines sprachlich zusammenhängenden Raumes in Vorderasien zu fördern, zugleich aber die kulturelle Eigenständigkeit jeder der Komponenten unangetastet zu lassen. Ohne das vom Achämenidenreich von seinen Vorgängern übernommene und praktizierte Territorialstaatsprinzip mit der fortgesetzten Integration verschiedener Völker und Länder ist das Ausgreifen des Makedonen- und Griechentums im Hellenismus nach Osten gar nicht denkbar, entbehrte die griechische Geschichte des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. eines wesentlichen Movens' und wäre ganz sicher anders verlaufen.
 
 Die Perser — Bezugspunkt für die Griechen
 
Diese beiden Jahrhunderte sind weitgehend geprägt vom persisch-griechischen Kräftespiel, Hellas wurde den großen Nachbarn im Osten nicht mehr los. So gestaltete sich auch das gegenseitige Verhältnis: Neben das politische Argument — Befürchtungen um den Grad der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit — trat bei den Griechen die auf Neugier und Entdeckerfreude fußende Weltoffenheit, die Exotik des Fremden mit ihrer magischen Anziehungskraft, im Weiteren dann die geistig-philosophische, paradigmatisch orientierte Wahrnehmung und später wiederum, kreislaufförmig, im turbulenten 4. Jahrhundert der politische Aspekt, diesmal aber bereits als Ventil für die Entspannung der eigenen Situation, gewissermaßen als Zielort bei der Suche nach dem neuen Staat. Bemerkenswerterweise lieferten die Perser in diesen knapp 200 Jahren den Maßstab für die Griechen, ganz anders als andere »Barbaren«, an denen das Interesse, so nicht konkret alltagsbezogen (etwa die skythischen Polizisten in Athen), vor allem ethno- und geographisch begründet war. Dieses aus der Konkurrenzsituation geborene Maßstabsdenken führte zu jenen Appellen »wider den Erzfeind Persien«, wie sie Isokrates publizierte und aus denen Xenophon als intimer Kenner des Reiches der Achämeniden bereits praktische Konsequenzen zog, wenn er gerade dort den neuen Griechenstaat erspähte, wo ihn wenige Jahrzehnte später der Makedone Alexander der Große auch tatsächlich zu installieren begann. Der sich in den Köpfen wie in der realen Alltagspolitik allmählich anbahnende Grundtenor der Entwicklung lautete modern gesprochen schließlich: Griechisches Know-how und persische Ressourcen sollten zu bestimmenden, die politische Landkarte verändernden Faktoren werden. In dieser gegenseitigen Bedingtheit kulminierte zugleich die gegenseitige Wahrnehmung, die weit über den Tatbestand der Begegnung hinausreichte und sich zu einem neuen, hellenistischen Weltbild transformierte.
 
 Der Hellenismus — Ein Zeitalter der kulturellen Begegnung
 
Für den Hellenismus, begreift man ihn in seiner politischen Dauer oder als kulturhistorisches Phänomen, gilt wie für keine zweite historische Epoche die Definition als Zeitalter der Begegnung, denn Hellenismus ist kulturelle, ethnische und politische Begegnung in Permanenz. Unterschieden sich frühere Epochen durch den Grad des kulturellen Austausches mit anderen, war nunmehr eine Situation eingetreten, in der das Neben- und Miteinander verschiedener Ethnien einen festen Bestandteil der Alltagskultur bildete. Nach Platon hielt man das Reisen und somit die Bekanntschaft mit dem Fremden schon immer für eine Grundtugend des freien Griechen, jetzt schien sich zu verwirklichen, was lange Zeit hindurch keineswegs alle praktizierten: Die Ökumene, die bewohnte Welt, war in Bewegung geraten und der Geburtsort nicht mehr zwingend wichtigster Standort eines Menschen. Verfolgt man hellenistische Biographien, soweit sich dies überhaupt bewerkstelligen lässt, so fällt die hohe Mobilität auf: Ein aus Obermesopotamien oder Syrien gebürtiger Grieche konnte ohne weiteres in Ionien, auf Rhodos oder in Athen angetroffen werden, während umgekehrt viele Griechen aus ihren Heimatpoleis in die großen Städte des Ostens wie Antiochia am Orontes, Alexandria in Ägypten, aber auch Seleukeia am Tigris abwanderten. Das politische und das kulturelle Geschehen hatte sich an die Ränder verlagert und strahlte von dort, bereichert um die Erfahrungen der Randkulturen, auf das griechische Mutterland zurück. Die Städte boten ethnisch ein buntes Bild, Angehörige aller Völker und Stämme lebten gemeinsam in ihnen, manchmal durch eigene Gesetze und Bezirke von anderen getrennt (wie die Juden in den Politeumata oder die Griechen in Babylon). Auch im äußeren Erscheinungsbild stellten sich Veränderungen ein, trugen Mode und Zeitgeschmack dazu bei, dass in der Alltagskultur, in Kleidung, Gebrauchsgegenständen, Hausbau und Architektur, auch in der Kunst usw. Elemente anderer Kultureinflüsse sich zeigten und eine im Grunde gegenseitige Entlehnung begünstigten.
 
Solche charakteristischen Annäherungen vollzogen sich jedoch unter ganz besonderen Voraussetzungen: Sie überbrückten in der Regel höchst selten die genuinen Unterschiede zwischen Personen anderer ethnischer Herkunft, was sich allein durch das Fehlen einer festen diesbezüglichen Terminologie veranschaulichen lässt. Herkunft drückte man nach wie vor örtlich bzw. landschaftlich aus, sieht man von der Hellenen-Barbaren-Antithese einmal ab, und damit ordnete man sich bestimmten kulturellen und sakralen Traditionen zu, durch die Unterschiede eigentlich transparent wurden. Eine gewisse Ausnahme bildete hier die Aramäisierung Vorderasiens, die eine Jahrhunderte schwelende Vereinheitlichung bezeichnete, aber doch als Prozess noch lange nicht abgeschlossen war. Barbaren stand die Möglichkeit offen, durch Sprache und Erziehung einen Status als Hellene zu erwerben, so weit war man im Hellenismus durchaus. Allerdings haben wir es hier mit eher intellektuellen Grundsätzen zu tun, deren Verwirklichung sich ganz anders motivierte: Im Umgang mit einer makedonisch-griechischen Oberschicht schien es immer geraten, sich deren kulturellen Anstrich zu geben. Dies kam in den von den Herrschern verliehenen Städtenamen bei den Neugründungen auf dem Territorium der alten orientalischen Zentren ebenso zum Ausdruck wie in den griechischen Personennamen des seleukidischen Babylonien, die in den Keilschrifttexten innerhalb der einheimischen Führungsschicht belegt sind. Dem gleichen Ziel dienten unter anderem zweisprachige Wörterlisten, Entlehnungen der griechischen Sprache in die einheimische, vor allem im politischen Bereich. Griechische Inschriften mit Texten aus Delphi verfasste und kopierte man nicht nur in Hellas oder Ionien, sondern jetzt sogar in Mittelasien, an den Ufern des Oxus (heute Amudarja). Ein ausgesprochen hellenistisches Phänomen waren jene einheimischen Priester, die sich als griechisch schreibende Historiker herausstellten und die Kultur und Geschichte ihres eigenen Volkes in der Sprache und der Manier der Eroberer verfassten, sich also ganz anderer, für sie ungewöhnlicher Verständigungs-, Interpretations- und Kunstmittel bedienten, um Informationen zu liefern, aber auch für das Eigene zu werben. Dies kann als das Verbindende zwischen Berossos, Manetho und Fla- vius Josephus gelten, um nur die exponiertesten Schriftsteller zu nennen, die jeder einen Kulturkomplex verkörperten: den babylonischen, den ägyptischen und den jüdischen.
 
Im Hellenismus manifestierten sich Annäherung und Vereinigung vor allem auch im Königsdienst: Der Herrscher bildete in der sozialen, aber auch in der kulturell-sakralen Struktur dieser Staaten einen festen Bezugspunkt, an dem sich das »öffentliche« Leben orientierte, sodass sich im Dienst für das Königtum eine Bündelung oft höchst unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte einstellte. Die Bindung an den jeweiligen Herrscher wirkte konsolidierend, man könnte von einem als Personalunion zu charakterisierenden Phänomen sprechen. Die Stellung einer Stadt oder eines Heiligtums, aber auch der persönliche Aufstieg und die öffentliche Anerkennung einer Person hingen in einem hohen Maß von dem Grad der Integration in die herrschende Gesellschaft der hellenistischen Reiche ab, deren konstituierendes Element das Königtum war. In den dem monarchischen Prinzip verpflichteten Staatswesen stellt sich die Frage nach dem Nutzen und der Ziel- und Zweckmäßigkeit einer Handlung ganz eindeutig zugunsten des Herrschers, was vielleicht am markantesten im Königskult zutage trat, den diejenigen betrieben und pflegten, die den Inhaber der höchsten Staatsgewalt für sich zu gewinnen suchten. Darüber hinaus wirkte das Prinzip reflexiv, da ein Gottkönig oder gottgleicher Herrscher über ein größeres Charisma verfügte als ein König ohne diese göttlichen Gaben, was denen zugute kam, die den Kult installierten. Städte, vor allem die alten griechischen Zentren, die einem Herrscher gottähnliche Ehrungen stifteten, taten dies aus konkreten Anlässen und keineswegs für alle Zeit: Die Betreiber solcher Ehrenbeschlüsse konnten sowohl das Wohl der Stadt als auch das eigene oder beides im Auge haben. Auch die orientalischen Untertanen bedienten sich dieses bewährten Mittels und inkorporierten den makedonischstämmigen König in ihre eigene, auf den König bezogene uralte Kultpraxis, verschlossen sich aber auch dem griechischen Herrscherkult nicht, wie es nicht nur aus Babylonien, sondern sogar aus Jerusalem bekannt ist. Aber auch Griechen exponierten sich nicht allein im ptolemäischen Ägypten als Pfleger einheimischer Kulte, darunter auch solcher, die der Dynastie geweiht waren. Erst die Auffassung vom Königtum als Quelle persönlichen Glücks und Wohlergehens, die sich an das ursprüngliche Bild des sieghaften Herrschers heftete, bahnte den Weg zu dieser die unterschiedlichen Komponenten der Gesellschaft bündelnden Entwicklung. So verknüpfte sich die Vorstellung vom Herrscher mit den konkreten Erwartungen, die man an ihn stellte, was ihn erst zur eigentlichen Integrationsfigur machte: Im Hellenismus vollzog sich kulturelle Begegnung und Wahrnehmung nicht zuletzt als Folge der Eroberung über den gemeinsamen Nenner des sowohl de iure als auch de facto bestehenden, aber nicht durch einen allgemein verbindlichen Begriff ausgezeichneten Untertanenstatus, sodass die in der Praxis erreichte Zusammenführung unterschiedlicher Völker eher zu einer dezidierteren Abgrenzung untereinander führte, wobei die »Öffentlichkeit«, also das Königtum, das Bindeglied bildete.
 
 Begegnung und Integration — Von der Völkervielfalt in Italien zum römischen Weltreich
 
Bei einer Betrachtung der römischen Verhältnisse muss man von vornherein den Dualismus berücksichtigen, der sich an den Iden des März des Jahres 44 v. Chr., dem bekannten Datum der Ermordung Caesars, als einer Zäsur festmachen lässt. Bot die Zeit der Römischen Republik eher das Bild eines langsamen, stufenweisen Hineinwachsens in die übrige Ökumene, bei dem man vom nahe Gelegenen zum immer Ferneren vordrang, muss die Kaiserzeit geradezu als Abbild jener bunten Mannigfaltigkeit des Altertums gelten, mit der wir uns bisher beschäftigten und die die Römer nunmehr von den Griechen erbten, sodass wir vor allem für diese zweite Hälfte der römischen Entwicklung geradezu von einer Fortsetzung des Hellenismus sprechen können, dessen Kultur ohne die staatsbildende Kraft der Römer gar nicht fortbestanden hätte.
 
Wir erleben daher hier eine Multiplikation der im Hellenismus laufenden Annäherungen, vervielfacht durch das langsam um sich greifende Christentum; dieses erreichte in seiner schlichten Überwindung der Grenzen den denkbaren Höhepunkt des antiken Vorstellungsvermögens, worin ihm die Zeit des Kaiserreiches im Grunde genommen in allen Punkten folgte, zieht man die allerorten einsetzende, zunehmende Provinzialisierung, die constitutio Antoniniana Kaiser Caracallas von 212 über die allgemeine Vergabe des Bürgerrechts und das Toleranzedikt des Galerius von 311 mit allen seinen Weiterungen, das den Verfolgungen der Christen ein Ende setzte, um diese für das Reich zu gewinnen, in Betracht. In der Kaiserzeit lässt sich kaum noch von Begegnung sprechen, denn man lebte bereits zusammen, die ethnische Vielfalt war vollständig Alltag und die Beschäftigung mit dem Fremden oder Exotischen normal geworden, wie man leicht aus den literarischen Themen dieser Zeit schließen kann. Zu den impulsvermittelnden Begegnungen der römischen Frühzeit zählt vor allem die mit den Etruskern, deren Werden und Blühen nicht minder mit Italien verbunden ist als der Aufstieg Roms. Die Apenninenhalbinsel, so nach der sie prägenden Gebirgskette genannt und umspült von vier Meeren, dem Adriatischen, dem Ionischen, dem Tyrrhenischen und dem Ligurischen, die allesamt Teile des Mittelmeeres bilden, bestimmte geographisch die Voraussetzungen, unter denen Etrusker und Römer ihre eigenwillige Vernetzung miteinander vornahmen. Der wenigen Inseln wegen nicht so gut wie Griechenland für die Seefahrt geeignet, besaß Altitalien jedoch einen großen Fonds fruchtbaren Ackerbodens in der Poebene, in Etrurien, Kampanien, Sizilien. Das versumpfte Latium wurde vermittels der Entwässerung urbar gemacht. Hinzu kam ein Reichtum an Flüssen und ursprünglich auch an Wäldern, während an Bodenschätzen nur Marmor, Ton und Salz erwähnenswert sind. Zur Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. bot Italien im Vergleich zu Hellas ein Bild ethnischer Vielfalt: Nordwestlich siedelten die Ligurer, im Osten ein dem illyrischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie zuzuordnendes Volk, die Veneter, im Südosten die Japyger, sodann die italischen Stämme, etwa die Osker-Umbrer, die Sabiner-Samniten, die Latiner, die aus den Donaugebieten eingewandert waren. Aus dem Osten gelangten seit Beginn des 1. Jahrtausend v. Chr. Phöniker, später Griechen nach Italien. Auf einem solchen ethnisch-kulturellen Nährboden entstand, wohl nicht ohne Einflüsse aus dem Orient, die etruskische Zivilisation, die faszinierende Übereinstimmung mit der hellenischen aufweist.
 
Der römische Gelehrte Varro gab den 21. April 753 v. Chr. als das Gründungsdatum Roms an, heute wissen wir, dass es sich um ein Traditionsdatum handelte; dennoch dürfte die römische Überlieferung einiges aus dieser Frühzeit richtig widerspiegeln, so das Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Stämme, die sich auf diese Weise aber zugleich auch wahrnahmen. Die Etrusker zumindest scheinen mit Rom seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. in engerer Verbindung gestanden zu haben, gilt es doch als sicher, dass die letzten drei der sieben legendären römischen Könige Etrusker gewesen sind. Ihrem Einfluss scheint auch der Aufschwung, den Rom nahm, verpflichtet zu sein, ließen sich doch schon unter Tarquinius Priscus viele Etrusker in Rom nieder, deren Wirken sichtbar nicht ohne Folgen auf die gesamte römische Kultur geblieben ist, während die Reformen des Servius Tullius auf lange Sicht die politische Struktur Roms bestimmten und die politische Hegemonie ihrer etruskischen Schöpfer entschieden überdauerten. Hierin bestand wohl auch das Phänomen dieses letztlich doch nur höchst schemenhaft wahrnehmbaren Kulturaustausches zwischen Römern und Etruskern: Indem sie eine Stadtkultur ausbildeten, die im Austausch mit den Hellenen und wiederum neben ihnen eine hohe kulturelle Blüte repräsentierte, schenkten sie Rom ihre Höchstleistungen und lebten durch die Römer, ähnlich wie später dann die griechische Kultur in ihrer hellenistischen Prägung im Kaiserreich überlebte, in der Geschichte weiter, ohne dass sie als politischer Machtfaktor noch irgendeine Rolle gespielt hätten.
 
Betrachtet man Rom einmal mit diesem komparatistischen Ansatz, so muss auffallen, dass es seine Beziehungen zur Außenwelt stets mit einem unverhältnismäßig hohen Maß an Offenheit dem Fremden gegenüber gestaltete, indem es ein fein abgestuftes System der Beziehungspflege in Anwendung brachte, das sich einer an Präzisionsarbeit grenzenden Subtilität bei der Festlegung der Kontakte bediente und drastische Vergröberungen peinlichst zu vermeiden suchte. Hierin unterschied sich Rom deutlich von seinen im Grunde ähnlich »imperialistisch« intendierten Vorgängern in der Geschichte, wie den hellenistischen Reichen, den Achämeniden, Neubabyloniern oder Assyrern, die allesamt die unterworfenen Völker lediglich als Tributpflichtige behandelten, ohne in deren innere Strukturen ernsthaft eingreifen bzw. dieselben bei der Installierung der konkreten Beziehungen berücksichtigen zu wollen. Der staatsschöpfende Ansatz Roms wirkte wie ein ganz bewusst eingeführtes Prinzip im Umgang mit anderen, bei dem Sorgfalt, Behutsamkeit, exaktes Kalkül, strenge Prüfungskriterien wie Medien zur Durchsetzung der Ziele funktionierten: Rom wollte nicht nur beherrschen und ausbeuten, Rom wollte eingliedern. Die Geschichte der römischen Expansion in Italien, in den Auseinandersetzungen mit Karthago, im Eingreifen in die Geschehnisse des hellenistischen Ostens markiert einen Weg, der grundsätzlich dieser Tendenz verpflichtet ist. Bereits im foedus Cassianum (um 370 v. Chr.), dem Bündnis mit den Latinern, zeichnete sich die künftige hohe Kunst der Beziehungspflege bei den Römern ab, wenn man die große Bedeutung einer sowohl eherechtlichen wie auf den Handel bezogenen Gleichstellung aller Latiner mit Rom in Betracht zieht. Erst dies ermöglichte auch die Integration aller Latiner nach dem Latinerkrieg und ihre zu den Römern unterschiedslose Stellung bei der Verteilung der Beute aus den Samnitenkriegen, die in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts die Lage in Italien bestimmten. Wenn die Römer für die »befriedeten« Gebiete den Begriff der civitas (Bürgerschaft) bzw. cives sine suffragio (Bürger ohne Stimmrecht) einführten, so erhellt auch hieraus das Bestreben nach Verhältnismäßigkeit der Mittel und Beziehungen, also eine letztlich auf den konkreten Fall abgestimmte Angliederung des Unterworfenen unter der Bewahrung seiner Autonomie. Das schließlich aus den italischen Auseinandersetzungen hervorgegangene römische Modell gipfelte in der Dreiteilung civis Romanus sociumve nominisve Latini (römischer Bürger, Bundesgenosse Roms oder Bürger latinischen Rechts), deren vielleicht prägendstes Element in dem Tatbestand zu sehen ist, dass der Charakter des Verhältnisses, das jedes einzelne Mitglied dieses Systems zu Rom unterhielt, ausschließlich von der Art der konkreten Beziehungen abhing und dementsprechend stilisiert war, sodass eine große Anzahl von untereinander nicht vernetzten Einzelbeziehungen, die alle auf Rom zielten, so entstand, wie es sich historisch und zufällig ergab. Rom war nicht Primus inter pares, sondern unangefochtener Hegemon, und eben darin muss die große Funktionstüchtigkeit dieses Modells erkannt werden: In einem paternalistischen Selbstbewusstsein übernahm Rom nicht nur die Macht in den botmäßigen Regionen, sondern auch die Verantwortung für die Unterworfenen. Dieser grundsätzlich positive Ansatz ermöglichte Rom auch die Wahrnehmung und Verarbeitung der Errungenschaften seiner Untertanen, ihre Pflege und die Sorge um ihren Fortbestand: Dafür kann unsere heutige Moderne ihm nicht genug Dank wissen. In diesem Licht gewinnen Aktionen der Römer, wie sie etwa mit den ersten hellenistischen Testamenten zugunsten Roms zusammenhingen, ihre besondere Deutung: Das Testament des pergamenischen Herrschers Attalos III. von 133 v. Chr. eignet sich am besten zur Illustration römischen Umgangs mit solchen Angeboten — man nahm nicht einfach an, sondern prüfte die Frage eingehend und entschied im Bewusstsein der Verantwortung für die Sache. Die römische Präsenz im hellenistischen Griechenland war nicht nur ein Akt der Eroberung, sondern leitete einen stark fließenden Kulturimport ein, dem man zwar erst einmal mit Misstrauen begegnete, der aber schließlich kulturprägend wurde, sodass Athen zur Metropolis des Geistes avancierte. Das vor allem auch in dieser Zeit ausgebildete ius gentium (Völkerrecht) spiegelte das hohe Maß an Flexibilität wider, das man römischerseits anstrebte, um auf der Grundlage der fides, der Wahrhaftigkeit und Treue, ein Recht zu schaffen, das alle Völker nutzen könnten. Es hat den Anschein, als müsse man das Unterpfand für Roms rational-utilitaristische und damit zugleich (trotz aller nennbaren Mängel) pflegliche Praxis allem Nichtrömischen gegenüber in seinem stark ausgeprägten Selbstwertgefühl erkennen, in der Einsicht, dass allein derjenige, der sich selber achtet, auch Fremdes zu achten imstande ist. In dieser Grundeinstellung, mit der die Römer immer wieder, oft schmerzhaft, in fremde Strukturen eingriffen und sie veränderten, indem sie sie ihrem System anpassten, kulminiert aber auch die summa ratio des Fortbestandes dieser römisch modifizierten Gemeinwesen im Sinne ihrer Befähigung zur Integration in immer neue Zeitverhältnisse. Eben darin bestand eine der großen Leistungen Roms, die sich wie kaum in einem zweiten im Phänomen der Begegnung mit anderen Kulturen widerspiegelte.
 
Dr. Bernd Funck
 
 
Boardman, John: Kolonien und Handel der Griechen. Vom späten 9. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. Aus dem Englischen. München 1981.
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Universal-Lexikon. 2012.

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